Wer Anzeige gegen eine PolizistIn erstattet, weil er/sie von der Polizei unrechtmäßig angegriffen, beleidigt oder gar verletzt wurde, wird schnell merken, dass es äußerst schwierig ist, gesetzlich gegen die Polizei vorzugehen. In der Regel bezeugen die KollegInnen der angezeigten PolizistIn den Tatvorgang aus deren Sicht. Kommt es zu einer Gerichtsverhandlung, werden PolizistInnen meistens frei gesprochen. Oft finden sich die KlägerInnen selber auf der Anklagebank wieder wegen „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ (Paragraph 113 StGB). Die Zahlen sprechen für sich: Im Jahr 2009 wurden in Berlin 748 Strafverfahren gegen PolizistInnen wegen Körperverletzung im Amt eingeleitet. Nur 5 davon endeten mit einer Verurteilung (vgl. Litschko 2009, http://taz.de/Polizeiattacke-auf-den-Mann-in-blau/!77115/). Häufig folgt auf eine Anzeige gegen PolizistInnen – zum Beispiel wegen Körperverletzung im Amt – eine Gegenanzeige. Die angezeigten PolizistInnen zeigen dann ihrerseits wegen „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ an. Die PolizistInnen machen somit den Geschädigten bzw. die Geschädigte zur TäterIn.
Wir wollen über die Paragraphen, auf deren Grundlage PolizistInnen Gegenanzeigen stellen, aufklären. Dabei geht es uns darum, über den Inhalt der Paragraphen, die Bedeutung des Wortlautes und die Interpretationen der Gesetzestexte zu informieren. Natürlich kann dieses Wissen niemanden vor einer Gegenanzeige seitens der Polizei schützen. Dennoch gibt es ein „sicheres Gefühl“ und Selbstvertrauen, zumindest grob über die verschiedenen Strafbestände Bescheid zu wissen. Dieses Wissen kann Opfer von (rassistischer) Polizeigewalt innerlich stärken. Die Ausführungen legen keinerlei Anspruch auf – im juristischen Sinne – Vollständigkeit und Richtigkeit. Es geht mehr darum, Laien verständlich zu machen, was die oft komplizierten Gesetzestexte bedeuten und welche Interpretationsmöglichkeiten dabei bestehen.
„Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ (§113 StGB)
(1) Wer einem Amtsträger oder Soldaten der Bundeswehr, der zur Vollstreckung von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Urteilen, Gerichtsbeschlüssen oder Verfügungen berufen ist, bei der Vornahme einer solchen Diensthandlung mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt Widerstand leistet oder ihn dabei tätlich angreift, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn
1.der Täter oder ein anderer Beteiligter eine Waffe bei sich führt, um diese bei der Tat zu verwenden, oder
2. der Täter durch eine Gewalttätigkeit den Angegriffenen in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung bringt.
(3) Die Tat ist nicht nach dieser Vorschrift strafbar, wenn die Diensthandlung nicht rechtmäßig ist. Dies gilt auch dann, wenn der Täter irrig annimmt, die Diensthandlung sei rechtmäßig.
(4) Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig an, die Diensthandlung sei nicht rechtmäßig, und konnte er den Irrtum vermeiden, so kann das Gericht die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2) oder bei geringer Schuld von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen. Konnte der Täter den Irrtum nicht vermeiden und war ihm nach den ihm bekannten Umständen auch nicht zuzumuten, sich mit Rechtsbehelfen gegen die vermeintlich rechtswidrige Diensthandlung zu wehren, so ist die Tat nicht nach dieser Vorschrift strafbar; war ihm dies zuzumuten, so kann das Gericht die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2) oder von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen. (vgl. http://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__113.html)
Der Paragraph 113 StGB schützt die Durchsetzung staatlicher Vollstreckungsakte sowie die zur Durchsetzung befugten Personen. (PolizeibeamtInnen, GerichtsvollzieherInnen, BeamtInnen der Gemeinde und Länder, aber auch Soldaten zählen dazu, wenn sie gegenüber Zivilpersonen zur Vollstreckung befugt sind)
VollstreckungsbeamtInnen (Amtsträger nach § 11 I. Nr. 2 StGB) sind nur durch Paragrpah 113 StGB geschützt, wenn sie zur Vollstreckung berufen sind, „wenn sie die Befugnis haben, bezogen auf einen konkretisierten Einzelfall den Staatswillen zu verwirklichen und notfalls mit Zwang durchzusetzen“ (Zöller/Steffens 2010: 1f).
Damit Paragraph 113 StGB gilt, muss der Widerstand während der Vollstreckungshandlung geleistet werden. Unter Vollstreckungshandlung ist die Verwirklichung des Staatswillens zu verstehen. Zu Vollstreckungshandlungen zählen auch Handlungen, die die Vollstreckungshandlung vorbereiten, abwickeln oder absichern
Widerstand leisten umfasst „jedes aktive Verhalten, das darauf ausgerichtet ist, die Vollstreckungsmaßnahme zu verhindern oder zu erschweren“ (Zöller/Steffens 2010: 3).
Die möglichen Tathandlungen, die Paragraph 113 umfassen, sind folgende:
Der/Die TäterIn leistet entweder mit Gewalt, mit Drohung von Gewalt oder mit tätlichem Angriff Widerstand. Problem: In der richterlichen Praxis wird Gewalt sehr weit gefasst. So gilt zum Beispiel bereits als Anwendung von Gewalt, wenn „der Täter durch das Verschließen von Türen den Zugang von Amtsträgern verhindert“(Zöller/Steffens 2010: 3)[1]. Dieses breite Gewaltverständnis führt dazu, dass fast jede Form des Sich-Widersetzens strafbar wird. Auch die Drohung von Gewalt reicht für eine Strafbarkeit nach Paragraph 113 aus.
Die Tat ist aber nur strafbar, wenn die Diensthandlung rechtmäßig war. Dabei stellt sich jedoch die Frage, nach welchen Maßstäben die Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung geprüft werden soll bzw. kann.
→ strafrechtliche Rechtmäßigkeitsbegriff:
1) Für die Vollstreckung muss eine gesetzliche Eingriffsgrundlage gegeben sein,
2) Die VollstreckungsbeamtIn muss sachlich und örtlich zuständig gewesen sein,
3) Wahrung der wesentlichen Förmlichkeiten,
4) Prüfen der Annahme der Vollstreckungsvorausetzungen: „Hat ein Vollstreckungsbeamter auf einen verbindlichen Befehl gehandelt, ist […] zu fragen, ob er auf dessen Rechtmäßigkeit vertrauen durfte und ihn in gesetzlicher Form vollzieht“ (Zöller/Steffens 2010: 5f)[2]
Problem: Strafrechtliche Verfolgung von Polizeiübergriffen Über das Ausmaß von Polizeiübergriffen in Deutschland ist wenig bekannt. Das Innenministerium gibt lediglich zum Schusswaffengebrauch eine Statistik heraus. Die Anwendung von Gewalt ist PolizistInnen ausdrücklich erlaubt. Zu einem Übergriff wird Gewalt von PolizistInnen erst dann, wenn sie „unverhältnismäßig“ geschieht. Ist man von einem Übergriff der Polizei betroffen und bringt diesen zur Anzeige, begründen die PolizistInnen die Gewalt mit dem Verhältnismäßigkeitgrundsatz und stellen ihrerseits eine Gegenanzeige wegen „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“. „Widerstand“ gilt als legaler Grund für eine polizeiliche Gewaltanwendung. So finden sich viele, die Anzeige gegen die Polizei erstattet haben, selber auf der Anklagebank wieder. So werden aus Opfern von Polizeigewalt TäterInnen, die die Polizei angegriffen haben sollen. Kommt es zu einem Gerichtsverfahren, stehen die Chancen für eine Verurteilung der PolizistInnen äußerst schlecht. Die Angeklagten können sich darauf verlassen, von ihren KollegInnen gedeckt zu werden und ihre Version des Vorfalls vor Gericht bestätigt zu bekommen. Außerdem hat auch die Staatsanwaltschaft in der Regel wenig Interesse daran, mit der Polizei durch eine Verurteilung in Konflikt zu kommen, ist sie doch institutionell auf eine gute Zusammenarbeit angewiesen.
Menschenrechtsgruppen haben immer wieder dokumentiert, dass in Deutschland Übergriffe der Polizei entlang rassistischer Differenzierungslinien stattfinden. Die Polizei erklärt sich die Gewaltbereitschaft der PolizistInnen mit Verweis auf das allgemeine Gewaltpotenzial der (deutschen) Gesellschaft. So sei es nicht ausgeschlossen, dass sich auch bei der Polizei Menschen mit einer hohen Aggressivität finden, die dann ihre Position ausnutzen, um sich abzureagieren. In Lehrbüchern der Polizei ist dann von „Schwarzen Schafen“ die Rede. Diese Theorie der „Schwarzen Schafe“ ist jedoch wenig aussagekräftig und erklärt schon gar nicht, warum sich die Gewalt primär gegen Person of Colour und Schwarze Menschen, gekreuzt mit klassistischen und nationalistischen Motiven, richtet. Diese gezielte Gewalt (Gewalt bedeutet in diesem Zusammenhang auch die vermehrten „verdachts- und ereignisunabhängigen Personenkontrollen“ gegen vermeintlich Nicht-Deutsche) findet nicht in einem politikfreien Raum statt, sondern wird von politischen Entscheidungen beeinflusst. So können Diskurse über – mit Person of Colour und Schwarze Menschen- assoziierten Themen wie Ausländerrecht, Asylverfahren oder die ‚Ausländerkriminalität‘ durchaus ein Klima schaffen, indem sich PolizistInnen in ihrem Handeln bestätigt fühlen. Besonders die Rassialisierung durch eine gesondert geführte ‚Ausländerkriminalität‘ wird deutlich, wie sich der Kreis schließen kann: Da Menschen mit nicht-deutschem Aussehen öfter in den Verdacht einer Straftat oder in eine Personenkontrolle geraten, bestätigt sich die von der Politik suggerierte Vermutung, dass ‚AusländerInnen‘ krimineller seien als Deutsche. Die Polizei fühlt sich zum Einen durch rassistische politische Diskurse in ihren vermehrten Kontrollen bestätigt, während andererseits PolitikerInnen sich auf die Kontrolldichte der Polizei bei ‚AusländerInnen‘ beziehen können.
Literaturempfehlungen
www.gangway.de/gangway.asp?cat1id=6&cat2id=41&cat3id=&DocID=4470&client=gangway
Gangway betreibt Straßensozialarbeit in Berlin und hält auf der Homepage kurze und verständliche Erläuterungen zu ausgewählten Gesetzestexten bereit. Dies ist der Link zur Erklärung des Paragraphen 113 StGB.
www.ja-aktuell.de/cms/website.php?id=/de/studium_referendariat/aufs/grundprobleme.htm
Ein sehr ausführlicher Artikel über die Probleme des Paragraphen 113 StGB, allerdings etwas kompliziert zu lesen.
CILIP ist eine Zeitschrift, die sich kritisch mit aktuellen Strategien und Veränderungen der Apparate der Inneren Sicherheit in der BRD auseinandersetzt.
http://www.cilip.de/ausgabe/67/puetter.htm
Dieser Artikel von Norbert Pütter setzt sich kritisch mit den institutionellen und politischen Voraussetzungen von Polizeiübergriffen auseinander.
www.gesetze-im-internet.de/stgb/
Hier ist das komplette Strafgesetzbuch online
www.gesetze-im-internet.de/stgb/__113.html
Das ist der Gesetzestext des Paragraphen 113 StGB.
www.dejure.org/dienste/lex/StGB/113/1.html
Der juristische Informationsdienst dejure.org hält unter diesem Link Beispiele über die Rechtssprechung zu Paragraphen 113 StGB.
Eine Datenbank, die ebenfalls Rechtssprechungen bereit hält. (Suchstichwort: „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“)
Unser herzlicher Dank gilt Janela für Ihre Recherchen!
[1] Die KOP-Chronik zeigt, dass Betroffene beispielsweise bei der Fesselung mit Handschellen oft starker physischer Gewalt durch polizeiliche Haltetechniken ausgesetzt sind. (Fixierung am Boden mit auf dem Körper knienden Beamt_innen und resultierender Luftnot, Fixierung an der Wand bei gleichzeitiger Verdrehung der Armgelenke, Pressung des Kopfes gegen Autodächer, etc.) Sie versuchen den Schmerzen der Fixierungen so gut es geht zu entgehen, d.h. sie strampeln mit den Füßen, versuchen sich in Seitenlage zu drehen, ihre Schulter-, Arm- und Fingergelenke stabil zu halten oder ihr Kinn gegen einen würgenden Griff zu pressen. Dies wird dann zu einer Anzeige wegen „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ konstruiert.
[2] vgl. auch http://www.ja-aktuell.de/cms/website.php?id=/de/studium_referendariat/aufs/grundprobleme.htm und http://www.gangway.de/gangway.asp?cat1id=6&cat2id=41&cat3id=&DocID=4470&client=gangway)