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Newsletter #3
1. *Kampagnenstart und kritischer Brief*
*Kampagnenstart: „Ban! Racial Profiling. Gefährliche Orte abschaffen“*
Die Berliner Landesregierung hat kürzlich zehn der sogenannten kriminalitätsbelasteten Orte bekannt gegeben – doch Racial Profiling findet weiterhin statt. Um hierauf aufmerksam zu machen und die Koalition an ihr Versprechen zu erinnern, Racial Profiling zu verbieten, starteten verschiedene antirassistische Organisationen und Initiativen gemeinsam die Kampagne: „Ban! Racial Profiling: Gefährliche Orte abschaffen“.
Neben einem Dialog mit der Regierung möchte die Kampagne in sozialen Medien Aufmerksamkeit und einen Raum für Austausch und kreative Ideen für Widerstand schaffen. Auch in achbarschaften und Communities werden Aktionen geplant.
Als JUSTIZWATCH unterstützen wir die Kampagne, denn jede rassistische Kontrolle stellt einen massiven, oft traumatisierenden Eingriff in das Leben der Betroffenen dar und führt dazu, dass öffentliche Orte für sie nicht mehr gefahrenfrei nutzbar sind.
Stop Racial Profiling! Rassistische Kontrollen abschaffen!
Link zu Facebook und Youtube:
https://www.youtube.com/watch?v=UPo2-Zgs2BE
https://www.facebook.com/gefaehrlicheorteabschaffen
*Kritischer Brief*
Gemeinsam mit der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) und ReachOut haben wir einen „kritischen Brief“ über die Zustände am Kriminalgericht Moabit an den Justizsenator verfasst. Dieser wird in der kommenden Woche veröffentlicht.
2. *Aufruf zur solidarischen Prozessbeobachtung*
Am Mittwoch, 21. Juni 2017 UM 10:00 UHR findet vor dem Landgericht Berlin (Raum B219, Wilsnackerstraße 4) die Berufungsverhandlung gegen Ibad Elsidi statt. Ihm wird vorgeworfen, Ende 2014 im Görlitzer Park eine geringe Menge Cannabis (4 Gramm) verkauft zu haben, wofür die Staatsanwaltschaft eine Haftstrafe von 6 Monaten beantragte. Ibad wurde vom Amtsgericht schließlich zu einer Geldstrafe in Höhe von 120 Tagessätzen à 15 EUR verurteilt.
Ibad bestreitet den Vorwurf, seine Verteidigung plädierte auf Freispruch. Ibad wurde das Opfer einer Verwechslung. Während im Rahmen der „task force Görlizer Park“ zwei Hundertschaften uniformierter Beamter den Park stürmten und viele der Anwesenden wegrannten, wurde Ibad mitten in dem allgemeinen Trubel als angeblicher Händler festgenommen. Einziger „Beweis“ gegen Ibad: Die sehr oberflächliche Aussage eines Zivilbeamten…
Zahlreiche Beobachtung und Unterstützung ist erwünscht.
3. *Prozessberichte*
*Widersprüche um Widerstand – Prozess gegen einen kurdischen Aktivisten*
7. und 28. Februar 2017, Amtsgericht Tiergarten: Ein Teilnehmer einer kurdischen Demo steht vor Gericht. Der in solchen Zusammenhängen schon klassische Vorwurf: Gefangenenbefreiung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Die Aussagen der Polizeizeugen waren – auch das ist klassisch für solche Verfahren – in vielen Punkten widersprüchlich. So gab es unterschiedliche Angaben dazu, ob und wie der Angeklagte den festnehmenden Polizeibeamten am Unterarm verletzt haben soll. Eindeutig belegt waren nur Verletzungen des Angeklagten, die ihm der festnehmende Beamte durch Schläge in Gesicht und Rücken zugefügt hatte. Eine Tatsache, die den Richter beim ersten Verhandlungstag in Erwägung ziehen ließ, das Verfahren einzustellen. Bedauerlicherweise blieb er nicht bei dieser Einschätzung und verurteile den Angeklagten zu 60 Tagessätzen. Gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt. Wir bleiben am Fall dran.
Das Protokoll vom 7. Februar kann hier eingesehen werden.
https://justizwatch.noblogs.org/prozessprotokolle/festnahme-auf-kurdischer-demo/
*Pfeffersprayattacke: kein Rassismus, sondern dummer Jungenstreich? Prozessbericht aus Königs Wusterhausen*
Am 01. September 2015 versprüht ein Mann in einer Unterkunft für Geflüchtete im brandenburgischen Massow Pfefferspray und verletzt damit rund 35 Personen. In der Folge kommt es zu einem Großeinsatz von Rettungsdiensten und Polizei. Am 22.02.2017 steht der Angreifer in Königs Wusterhausen vor Gericht. Der Angeklagte: ein Mann, der zum Tatzeitpunkt als Bauleiter in der Unterkunft arbeitet, dort auch selbst wohnt und auf Facebook rassistische Posts von Pegida teilt. Im Prozess gesteht der Angeklagte die als gefährliche Körperverletzung angeklagte Tat, bestreitet aber eine ebenfalls angeklagte Beleidigung. Die Pfeffersprayattacke stellt er als „Spaß“ dar: Er habe nicht gewusst, dass ein lediglich eine Sekunde anhaltendes Sprühen solchen Schaden anrichten könne.
Trotz der großen Zahl an Verletzten kann nur ein Mann aus Syrien im Prozess als Nebenkläger auftreten, da der Großteil der anderen Betroffenen in der Zwischenzeit abgeschoben wurde. Die Folgen der Tat und die Perspektiven von geflüchteten Menschen nehmen daher in der Verhandlung sehr wenig Raum ein. Dieser strukturelle Rassismus prägt auch den Ausgang des Verfahrens: Die Tatschilderung des Nebenklägers unterscheidet sich zwar in wesentlichen Punkten von der Version des Angeklagten und eines mit ihm befreundeten Zeugen, kann aber nicht durch weitere Zeug*innen bestätigt werden. Dies nehmen der Staatsanwalt und der Richter zum Anlass, den Nebenkläger auf seine Wahrheitspflicht hinzuweisen. Der Angeklagte wird schließlich der gefährlichen Körperverletzung schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von 1,5 Jahren auf Bewährung verurteilt. Das Gericht kann allerdings keine rassistische oder menschenverachtende Tatmotivation feststellen. Der Angeklagte habe ja vor der Tat den Abend mit Bewohnern der Unterkunft in guter Stimmung verbracht. Und Albaner seien für führende deutsche Kadernazis wohl nicht die „typische Umgangsklientel“. Daher gehöre die Tat eher in die Kategorie „sehr dummer Jungenstreich“.
Einmal mehr wird Rassismus ausschließlich organisierten Nazis zugeschrieben. Nicht erkannt werden rassistische Motive und Einstellungen, wenn Täter*innen auf die eine oder andere Weise mit den Menschen in Kontakt stehen, die sie aufgrund ihrer rassistischen Vorstellungen ablehnen – weil sie beispielweise in einer Flüchtlingsunterkunft arbeiten. Ebenfalls nicht erkannt wird Rassismus als gesellschaftliche Struktur. Dabei veranschaulicht der Prozess geradezu idealtypisch das Ineinandergreifen von staatlichem Rassismus (die Abschiebungen) und „privaten“ rassistischen Angriffen. Beides prägt die Lebensrealitäten von Geflüchteten.
Das ausführliche Prozessprotokoll wird bald auf unserem Blog veröffentlicht.
*Viel Lärm um einen grünen Schal*
1. und 20. März 2017, Landgericht Berlin: Wir beobachten die Berufungsverhandlung in einem Verfahren, in dem ein Mann in erster Instanz zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, weil er im November 2014 im Görlitzer Park Marihuana verkauft haben soll. Gegen das erstinstanzliche Urteil sind sowohl der Angeklagte, der die Tat bestreitet, als auch die Staatsanwaltschaft in Berufung gegangen. Ersterer möchte nicht für etwas verurteilt werden, das er nicht getan hat, letztere wollte eine Haftstrafe erwirken. Für den Angeklagten geht es um viel: nicht nur droht ihm Gefängnis; da er bereits vorbestraft ist, steht auch sein Aufenthaltsstatus auf dem Spiel. Die Indizien gegen ihn sind zwar dünn: nur ein einziger Zeuge, ein Polizeibeamter, will ihn beim Verkauf von Drogen beobachtet haben. Er behauptet, den Angeklagten aus fünfzehn Metern Entfernung an einem grünen Schal erkannt zu haben. Doch in der ersten Instanz hat dies für eine Verurteilung gereicht. Auch im Berufungsverfahren sieht es für den Angeklagten am ersten Verhandlungstag zunächst nicht gut aus: Die Stimmung ist gereizt. Staatsanwältin, Richterin und die Polizeizeugen reagieren offen genervt – zum Teil mit Augenrollen und empörten Schnauben – auf die kritischen Fragen der Verteidigung. Um so überraschender der zweite Verhandlungstag: Nachdem ein Zeuge, der an dem fraglichen Tag das Marihuana erstanden hat, aussagt, den Angeklagten nicht wiederzuerkennen, plädiert die Staatsanwältin von allen unerwartet auf Freispruch. Die Richterin schließt sich in ihrem Urteil an.
So erfreulich der Ausgang des Verfahrens ist, hat sich wieder einmal gezeigt, welche massiven Auswirkungen Racial Profiling für die Betroffenen hat. Ob nun mit oder ohne grünem Schal: für Schwarze Menschen endet ein Spaziergang im Görli schnell in jahrelangen Demütigungen durch das Strafjustizsystem. Das ausführliche Prozessprotokoll folgt.
*Wie auf der Straße, so im Gerichtssaal… Prozessbericht aus Wien*
3. Mai 2017, Landgericht Wien. Gemeinsam mit „Prozessreport“ beobachten wir einen Suchtmittelprozess. Der Angeklagte soll regelmäßig Cannabis in kleineren Mengen verkauft haben. Unter seinen mutmaßlichen Kund_innen sind viele Gymnasiast_innen. Dass viele von ihnen noch minderjährig sind, wird dem Angeklagten erschwerend zur Last gelegt.
Wir erleben einen schier unerträglichen Verhandlungstag. Der Angeklagte ist in schlechter gesundheitlicher Verfassung. Er scheint starke Schmerzen zu haben; teilweise fallen ihm während der Verhandlung die Augen zu. Es ist zu bezweifeln, dass er überhaupt verhandlungsfähig ist. Diese Tatsache lässt die übrigen Prozessbeteiligten unberührt. Als der Angeklagte auf seinen schlechten Zustand hinweist und um ein Glas Wasser bittet, verwehrt ihm der Richter selbst das mit dem Kommentar: „ich hab‘ kein Wasser“. Die Verteidigerin macht auf uns einen desinteressierten Eindruck. Sie verhält sich überwiegend passiv und scheint ihren Mandanten weder über seine Rechte und den Prozessverlauf aufgeklärt noch eine Verhandlungsstrategie besprochen zu haben. Der Richter, der aus seiner Verachtung für den Angeklagten keinen Hehl macht und den Prozess offenbar möglichst schnell über die Bühne bringen möchte, scheint den Angeklagten vor allem als Störfaktor wahrzunehmen, der mit allen Mitteln ruhig gehalten werden soll. Das zeigt sich schon bei der Verdolmetschung: es wird nur dann übersetzt, wenn der Angeklagte direkt angesprochen wird. Große Teile des Gesprochenen bleiben für ihn schwer- oder unverständlich. Mehrfach versucht er trotzdem, in den Prozess einzugreifen und Dinge aus seiner Sicht darzustellen. Daraufhin wird er entweder ignoriert, vom Richter verhöhnt oder angeherrscht, still zu sein.
Unerträglich sind auch die zahlreichen Zeug_innen: bis auf eine scheint es sich sämtlich um Gymnasiast_innen aus gutem Hause zu handeln, die teils in Begleitung ihrer besorgten Eltern erscheinen. Alle belasten den Angeklagten schwer. Über die Konsequenzen ihrer Aussagen machen sie sich offenbar keine Gedanken oder es ist ihnen schlichtweg egal. Für sie wird das Ganze schließlich glimpflich ausgehen und billiges Gras können sie in Zukunft im Zweifelsfall von einem anderen Dealer kaufen. Im Gegensatz zum Angeklagten wird mit den Zeug_innen im Übrigen äußerst vorsichtig und respektvoll umgegangen. Sie werden nicht durch kritische Fragen bedrängt und dürfen alle nach wenigen Minuten wieder gehen. Klassenunterschiede und rassistische Segregation, die die Schüler_innen – im Gegensatz zu ihren Dealern – auf der Straße von Polizeikontrollen unbehelligt lassen und ihnen den Zugang zu vornehmen Schulen und hippen Wohnvierteln eröffnen, aus denen andere verdrängt werden, treten auch im Gerichtssaal offen zu Tage.
Der Prozess wird Ende Juni fortgesetzt. Hier geht es zum ausführlichen Bericht.
https://justizwatch.noblogs.org/post/2017/05/09/wie-auf-der-strasse-so-im-gerichtssaal-prozessbericht-aus-wien/#more-936